Harald Schöning (Software AG), Peter Liggesmeyer (Fraunhofer / Universität Keiserslautern) Bild vergrößern

© Harald Schöning: © Software AG; Peter Liggesmeyer: © Fraunhofer

Herr Liggesmeyer, wie bewerten Sie die vorliegenden Forschungsergebnisse zu Industrie 4.0 und wo sehen Sie weiteren Forschungsbedarf?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass Industrie 4.0 nach wie vor ein besonders wichtiges Thema ist. Einerseits haben wir viel erreicht, andererseits ist aber auch noch viel zu tun. Es ist von zentraler Bedeutung, dass das Engagement der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik fortgesetzt wird. Viele Unternehmen haben Teilaspekte von Industrie 4.0 gut umgesetzt. Das betrifft beispielsweise die datentechnische Integration über Ebenen hinweg, die Transparenz schafft, Optimierungen ermöglicht, schnelle Reaktionen bei Problemen gestattet und die Qualitätssicherung vereinfacht. Die „große Idee“ von Industrie 4.0 ist aber, individuelle Produkte oder Dienstleistungen zu erzeugen. Die sogenannte Massenindividualisierung und die damit verbundenen Geschäftsmodelle haben in vielen Bereichen ein disruptives Potential. Dieses zu erschließen, ist meines Erachtens ein wesentliches Ziel. Dazu bedarf es weiterer Forschung. Zum Beispiel, um die Frage zu beantworten, wie Sicherheitsgarantien für Systeme erzeugt werden können, die sich autonom zur Laufzeit verändern oder Komponenten enthalten, die auf unsicheren Technologien – etwa maschinellem Lernen – basieren.

Herr Schöning, was sagt der Forschungsbeirat zu Datenräumen für Industrie 4.0? Wo besteht noch Handlungsbedarf?

Die Frage, wie Daten zwischen Industrieunternehmen sicher geteilt werden können, ist technisch im Wesentlichen beantwortet, z.B. durch die Ansätze des International Data Space. Um Daten im großen Maßstab zu teilen, ist jedoch auch eine semantische Kompatibilität erforderlich, insbesondere beim branchenübergreifenden Austausch. Hier liegt eine der Herausforderungen von Industrie 4.0-Datenräumen. Das größte Hemmnis dürfte aber momentan in den unklaren „Terms of Trade“ für Daten liegen. Der wirtschaftliche Nutzen der Herausgaber eigener Daten ist für vielen Unternehmen noch nicht erkennbar. Hingegen werden Risiken gesehen, weil nicht vollständig transparent ist, wozu die Daten letztlich genutzt werden und ob mit diesen nicht Wettbewerbsvorteile oder gar Geschäftsgeheimnisse aus der Hand gegeben werden. Daher besteht hier großer Handlungsbedarf auch für die Forschung: wie können Transparenz und Vertrauen erhöht werden, welche Rolle kann hier GAIA-X spielen, wie erfolgversprechende Geschäftsmodelle für den Datentausch entwickelt werden?

Herr Liggesmeyer, Herr Schöning, wie kann Nachhaltigkeit durch Industrie 4.0 aus der Sicht des Forschungsbeirats erfolgreich umgesetzt werden?

Herr Liggesmeyer: Nach meinem Verständnis erfordert Nachhaltigkeit unter anderem eine geeignete Balance aus Ökonomie und Ökologie. Ökologisch attraktive Lösungen, die ökonomisch nicht tragbar sind, werden sich ebenso wenig durchsetzen wie ökonomisch interessante Lösungen, die einen übermäßigen ökologischen Schaden hinterlassen. Die Fähigkeit von Industrie 4.0-Lösungen, autonom zu agieren, bildet eine geeignete Basis, um die erforderliche Justierung stets im optimalen Bereich zu halten und so Nachhaltigkeit aktiv zu gestalten.

Herr Schöning: Industrie 4.0 eröffnet viele neue Möglichkeiten, in allen produzierenden Branchen die Ressourceneffizienz zu steigern, CO2-Emmissionen zu reduzieren, eine echte Kreislaufwirtschaft zu etablieren (Remanufacturing vor Recycling) und erneuerbare Energien durch Energieflexibilität (vlg. https://synergie-projekt.de) besser nutzbar zu machen. In der Forschung werden hier fortlaufend ermutigende Resultate erzielt, ebenso wie Anregungen zu sinnvollen Anpassungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Die Task Force Industrie 4.0 und Nachhaltigkeit der Plattform Industrie 4.0 begleitet die Umsetzung dieser Resultate in die Praxis.